Predigt zur Jahreslosung von Pfarrerin Dr. Tia Pelz

Dies ist die Geschichte von Sarai und Hagar. Zwei Frauen. Spielbälle in einer Gesellschaft, in der nur Männer und ihre Nachkommen zählten. Zwei Frauen, die sich ihren Platz erkämpfen mussten. Und nie sicher sein konnten, in Sicherheit zu sein.

Zwei Frauen. Keine Verbündete. Weil erlebter Schmerz nicht selbstverständlich zu Mitgefühl mit anderen führt. Sondern hart macht. Hart wie Stein.

Dies ist die Geschichte von Sarai. Sarai ist eine wunderschöne Frau. So schön, dass ihr Aussehen sie immer wieder in Gefahr bringt. In einer Welt, in der Frauen Objekte männlicher Begierde sind. Ihr Ehemann Abram liebt sie sehr. Leider ist er aber ein ziemlicher Angsthase, wenn es ums Verteidigen seiner Frau geht. Dann gibt er sie schon mal als seine Schwester aus und überlässt sie dem Pharao zu dessen Lustbefriedigung, um seine eigene Haut zu retten. So ein Ehemann ist Abram. Sarai kann nichts dagegen tun. Außer lächeln und beten und alles über sich ergehen lassen. Und nicht daran kaputt gehen, weil sie eine starke Frau ist. Weil sie weiß, dass sie mehr wert ist als was die Männer in ihr sehen.

Sarai ist eine wunderschöne Frau. Alle bewundern sie. Zu sagen hat sie wenig in ihrem eigenen Leben und über ihr eigenes Schicksal. Selbstbestimmtes Leben gibt es für eine Frau in ihrer Stellung nicht. Nur gegenüber ihren versklavten Dienerinnen hat sie Macht. Wenigstens das. Die genießt sie. Hier fühlt sie sich so geachtet, wie sie es verdient hat. Hier wird sie angehimmelt. Hier entscheidet ein Wort über das Leben einer anderen. Wenn sie ihre Hand schützend über ein Mädchen hält, dann tut ihr niemand was. Wenn nicht, dann dürfen die freien Männer der Familie mit ihr schlafen, wann und wo sie wollen. Und die Kinder werden geborene Sklaven der Familie.

Sarai ist eine wunderschöne Frau. Und eine verbitterte Frau. Verzweifelt an ihrem Körper. Was nützt die Schönheit, wenn sie keine Kinder gebären kann? Was ist sie wert ohne Kinder? Sie kennt die Antwort. Hört sie täglich, wenn ihre Seele ihr entgegenschreit: Nichts bist du wert. Nichts, nichts. Nach außen lächelt sie, kleidet sich sorgsam. Innerlich zerreißt es sie. So sehr wünscht sie sich ein Kind. So sehr wünscht sie sich den Status der Mutter in einer Welt, in der nur die Mutter eine echte Frau ist. Und eine Frau nur abgesichert ist durch ihren Sohn. Wenn Abram stirbt, erbt Sarai nichts. Laut Gesetz.

Ihr Blick fällt auf Hagar. Ihre persönliche Sklavin. Eine Ägypterin mit glänzend schwarzer Haut und dunklen Augen. Ihr vertraut sie. Sie hat sie bisher vor den Zugriffen der Männer beschützt. Sie soll ihr das Kind gebären. Auf ihren Knien wird Hagar das Kind bekommen, und dann ist es Sarais Kind. So will es das Gesetz.

Und jetzt sieht Sara Hagar mit den Augen eines Mannes an. Als sexuelles Objekt, geeignet zur Fortpflanzung, nicht mehr und nicht weniger. Sie erzählt Abram den Plan. Er hat nichts dagegen einzuwenden, mit der jungen, hübschen Hagar zu schlafen. Hagar wird nicht gefragt. Sie wird darüber informiert, sich zu waschen und herzurichten und den alten Abram in seinem Gemach aufzusuchen. Sie hat keine Wahl, sie tut wie ihr befohlen. Es ist eine Vergewaltigung unter dem Deckmantel des rechtlosen Gesetzes der Zeit.

Und Hagar wird schwanger. Und Sarai wütend vor Neid und Demütigung. Weil Hagar nun mehr ist als eine einfache Sklavin. Weil Hagar nun Abrams Zweitfrau ist, die den Stammhalter trägt. Weil eine schwarze Frau, eine Ausländerin ohne Rechte nun die Zukunft dieser Familie ist. Eine Leihmutter, an deren Wohlergehen das Wohlergehen aller hängt.

Also fordert Sarai Hagar zurück von Abram. Um sie zu strafen. Dafür, dass sie jung, hübsch und stark ist. Und dafür, dass ihr Körper kann, was Sarais Körper verwehrt ist. Wer über Jahre mit Kinderwunsch und Unfruchtbarkeit kämpft, kann manchmal das Glück der anderen nicht mehr ertragen. Selbst, wenn es die Leihmutter des eigenen Stammeshalters ist. Sarai will nur noch vergessen. Ihren Schmerz. Ihre Angst. Also sorgt sie dafür, dass jemand anderes noch mehr Angst haben muss. Und noch mehr Schmerz ertragen muss. Weil Sarai in diesen Momenten, wenn sie Hagars Rücken blutig schlägt oder sie zwingt, stundenlang auf den Knien rutschend den Boden zu putzen, oder ihr in den Bauch tritt, weil Sarai dann für kurze Zeit ihre eigene Demütigung, ihren eigenen Schmerz nicht mehr fühlt. Aber danach um so stärker. So wie es die Sarais dieser Welt überall auf der Welt machen. Die ohnmächtigen Frauen, die wenigstens noch jemanden haben, der ihnen ausgeliefert ist: Andere Frauen, ausländische Frauen, schwarze und braune Frauen. Und, statt sich zu verschwestern, geht der Machtkampf weiter.

Dies ist die Geschichte von Hagar. Eine wunderschöne Frau. Fast noch ein Mädchen. Hagar ist nicht der Name, den ihre Eltern ihr gaben. Denn Hagar bedeutet einfach nur „Ausländer“. Nicht mal „Ausländerin“, sondern einfach nur maskulin-sächliche Form: Hagar, der Ausländer. Mit schwarzen Haaren und schwarzer Haut und einem strahlenden Lächeln. Aus einem Land, das groß und mächtig war. In dem Frauen Pharaonin sein können und nach dem Tod ihres Mannes den Besitz erben. Hagar erinnert sich nicht mehr an ihren echten Namen. Nur, dass er weich und verheißungsvoll klang. Aus dieser Zukunft, aus diesem Leben wurde Hagar geraubt, versklavt, entrechtet. Seit Jahren lebt sie bei und mit Sarai. Die ist gut zu ihr, so gut, wie es eine Herrin sein kann, der sie auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist. Hagar vergisst nie ihren Status, fällt nie herein auf die Freundschaftsbekundungen und Vertraulichkeiten. Sie weiß, dass ihre Herrin unberechenbar sein kann. Sie hat es bei anderen Mädchen schon erlebt.

Eines Morgens spürt sie, dass sich was verändert hat. Sarai schaut sie anders an. Interessiert, musternd, bewundernd und abschätzig zugleich. Hagar spürt die Angst aufsteigen. Nur keinen Fehler machen jetzt. Vielleicht ist es nur eine Phase. Dann die Nachricht: Sie soll zu Abram gehen. Was das heißt, ahnt sie aus dem Tuscheln der anderen. Widerstand ist zwecklos.

Sie geht hin. Sie erträgt den schweren, alten Mann. Wäscht sich und hofft, dass sie jetzt wieder in Ruhe gelassen wird. Dann kommt die Übelkeit, ihre Periode bleibt aus. Kein Zweifel. Sie ist schwanger. In ihrer Unsicherheit wendet sie sich an Sarai. Was soll sie tun? Was passiert jetzt mit ihr? Aber Sarai weiß es auch nicht. Wie auch, sie war ja noch nie schwanger. Hagar fragt andere Sklavinnen. Sie geben ihr Kräuter gegen den Schwindel und beruhigen sie. Gratulieren ihr. Was für eine Ehre, den Stammhalter des Hausherrn zu tragen.

Hagar merkt, wie sich die Dinge um sie verändern. Sie wird ruhiger, gelassener, strahlt eine Zufriedenheit aus, wie sie schwangeren Frauen oft eigen ist. Abram ist freundlich zu ihr. Erkundigt sich oft nach ihrem Wohlergehen, lässt ihr frisches Obst schicken. Sie weiß, es geht nicht um sie, nur um das Ungeborene. Trotzdem genießt sie die Aufmerksamkeit. Doch Sarai wird immer harscher zu ihr. Schont sie nicht mit körperlicher Arbeit. Weiß sie denn nicht, dass das gefährlich sein kann für Mutter und Kind? Wollte sie nicht so dringend dieses Kind, das doch am Ende sowieso ihres sein wird? Hagar gehört es nur jetzt, während der Schwangerschaft, das weiß sie.

Dann schlägt Sarai zu. Erst mit der Hand. Am nächsten Tag peitscht sie Hagar aus. Vor den Augen aller. Niemand kann was dagegen tun. Nur Abram, aber der schaut weg. Einige Wochen liegt Hagar im Bett, kann sich kaum rühren vor Schmerzen. Dann zwingt Sarai sie, wieder zu arbeiten. Einmal serviert sie zu heißen Tee. Sarai springt auf, zerrt sie auf den Boden und tritt ihr in den Bauch.

Da rennt Hagar. Rennt um ihr Leben und will nur noch sterben. Zur Wasserquelle rennt sie und setzt sich. Erstmal nachdenken. Erstmal was trinken. Wahrscheinlich suchen sie sie schon. Und was mit geflohenen Sklavinnen passiert, weiß Hagar.

Auspeitschen ist noch das Beste. Tod ist auch möglich. Da kann sie genauso gut hier sterben. Wenigstens selbstbestimmt.

Plötzlich steht da der Engel des Herrn neben ihr. Fragt, woher sie komme und wohin sie gehe. Zu viele Fragen für Hagar. Wenn sie das wüsste. Alles, was sie weiß ist die Gegenwart: „Ich bin von Sarai, meiner Herrin, geflohen.“ Wer sie ist, was sie sich erhofft, dafür ist kein Raum in ihrer Seele. Sie kann nur atmen und sein und schon das kostet sie mehr Kraft, als sie hat.

Der Engel redet weiter. Unerhörte Dinge. Das kann er nicht ernstmeinen. Von Rückkehr und Demütigung. Von Nachkommen und ihrem Sohn, den sie Ismael nennen soll. Aber sie hat doch gar nicht das Recht, diesen Sohn zu nennen. Das wird doch Abram tun. Der Engel sagt, dass ihr Sohn ein Mann wie ein Wildesel sein wird. Stark, und frei. Da muss sie lächeln. Da hüpft ihr Herz. Ihr Sohn wird frei sein. Was macht es da, dass sie leiden muss unter Sarai und Abram? Sie weiß nun, wofür sie das erleiden wird. Für ihren Sohn, der kein Sklave sein wird. Der geachtet sein wird und frei. Welch eine Hoffnung, welch eine Zukunft.

Hagar schaut auf und sagt mit ruhiger Stimme: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ El Roi. Das heißt wörtlich: „Gott sieht nach mir.“ Denn nun weiß Hagar: „Hier habe ich den gesehen, der nach mir sieht.“ Hagar steht auf und geht zurück zu Sarai und Abram. Trotzig und stark erträgt sie den Hass, die Schmerzen, das Leben. Trotzig und stark, mit Gott an ihrer Seite. Der sie sieht. In ihrem Elend. Der ihr versprochen hat, dass es besser wird. Eines fernen Tages.

Und sie gebar einen Sohn und Abram nannte ihn Ismael. Und Hagar dachte nur: Weiß ich doch schon lange, dass er so heißt.

Dies ist die Geschichte von Sarai und Hagar. Zwei Frauen. Die Seelenschwestern hätten sein können im geteilten Leid. Oder wenigstens Komplizinnen. Stattdessen machte die eine mit ein bisschen mehr Macht der anderen das Leben zur Hölle. Und Gott sah es. Und Gott gab der unterdrückten Frau die Kraft, zu überleben. Und Hagar wurde zum ersten Menschen in der Bibel, die Gott einen Namen gab. Und Hagar blieb die einzige Frau, die das tat. Und Hagar überlebte und ihr Sohn überlebte und im Alter lebten sie tatsächlich in Freiheit. Aber das ist eine andere Geschichte.

Sarai und Hagar. Zwei Frauen, die das Leid teilen, erst von Männern als wertvoll angesehen werden zu müssen, um sich als wertvoll zu erleben. Weil sie es so gelernt haben und glauben.

Sarai, die das eigene Lebensschicksal kaum erträgt und deshalb einer anderen Frau das Leben unerträglich macht. Obgleich es doch in ihrer Macht stände, es dieser Frau leichter zu machen. Sich mit ihr zu verschwestern. Und gemeinsam stark zu sein. Stattdessen hält Sarai an den alten Strukturen fest, die ihr Sicherheit geben. Und ein bisschen Macht. Nicht viel, aber mehr als nichts. Und oft glauben wir, dass alles ist, was wir uns erhoffen dürfen. Und vergessen, was passieren könnte, wenn sich Sarai und Hagar zusammentun. Wenn die Reichen und die Armen, die Mächtigen und die Ohnmächtigen zusammenkämen. Und überlegen, wie alle so leben können, dass Gott es sieht und sagt: Siehe, es ist gut.

Dafür müssen wir lernen, Hagars Gang und Blick auszuhalten. Ihren Trotz, ihre Stärke, ihre Forderungen danach, gleichgeachtet zu sein. In unserer Welt. Wir müssen anfangen, Menschen nicht als Kategorien zu bezeichnen, sondern mit Namen. Mit den Namen, die ihnen ihre Eltern gegeben haben. Oder mit den Namen, die sie sich gewählt haben. Wir müssen in schwarze und braune und blaue Augen schauen und unser eigenes Sehnen erkennen und dann die Hand ausstrecken und sagen: Komm, Schwester, komm, Bruder, wir sehen deinen Schmerz und teilen ihn. Wir sehen deine Wut und teilen sie. Wir haben Angst und wollen sie überwinden. Weil wir niemandem mehr etwas beweisen müssen. Keinen Mächtigen, keinen Vorgesetzten, keinem eigenen Ego. Denn, Gott sieht uns. Und das reicht.

Eine Oase wäre das für die Augen Gottes. Wie glücklich würde Gott uns anschauen. Uns alle. Amen.